Das ikste Jahr

 

Er wirft das Netz der Erinnerungen aus, wirft es über sich und zieht sich selbst, Erbeuter und Beute in einem, über die Zeitschwelle, die Ortschwelle, um zu sehen, wer er war und wer er geworden ist.
Ingeborg Bachmann, Das dreißigste Jahr

 

I.

Nein, Sie müssen verzeihen, ich kann Ihnen nicht sagen, wie alt ich bin. Oder, vielmehr: Ich kann es Ihnen nicht genau sagen, denn mein Alter, nun, es haftet nicht an mir. Ich bündle die Jahre, die ich auf dieser Welt verbracht habe, ich schultere sie, trage sie zu den Wasserstellen, an denen ich mein Bild suche. Jedes Mal finde ich ein anderes Bild vor, in das ich mich nur manchmal, einen schwachen Augenblick lang, verliebe. Meine Bilder werfe ich in stille Wasser, tauche sie in reißende Flüsse und muntere Bäche, bevor ich mich wieder auf den Weg mache, um meine Jahre aufzulesen, um sie wieder neu zu bündeln.

Meine gebündelten Jahre, sie sind verzweigt und widerborstig, sie widersetzen sich den Ansprüchen, die an mich, eines bestimmten Alters wegen, gestellt werden, in ihnen verkörpert sich meine Zeit. Die Zeit, die ich lachend und weinend, redend und fluchend, im Stillen oder im Tosen aufbrandender Gedanken und Begehren verbracht habe, sie lässt sich nicht einschüchtern durch eine gebieterische Zahl, die sie messbar, vergleichbar und annehmbar machen soll. Die Jahre, die ich auflese und bündle, sie summen und vibrieren, sind vielstimmig und widersprüchlich, auf einen einfachen Nenner sind sie nicht zu bringen.

Von den iks Jahren, die ich bislang auf dieser Welt verbracht habe, haben mich einige beeindruckt, sie haben mich das Weite suchen lassen, auf Reisen, in Begegnungen, in meiner Arbeit. Manchmal bin ich ein_e Akrobat_in gewesen, schnurstracks bin ich über Abgründe gelaufen, in dem guten Glauben, dass alles möglich sei, dass jeder Fall abgefedert werde und eine neue Chance ergebe. Manchmal habe ich mir mein Auffangnetz genauer angesehen, habe seine fadenscheinigen Stellen entdeckt, an tragfähigeren Möglichkeiten gewoben und mir dabei in den Finger gestochen. Gelacht, geweint, geflucht habe ich, wenn es dann doch ein Beinbruch gewesen ist und ich mir etwas Neues, einen anderen Anfang, ein neues Ende habe überlegen müssen.

Andere Jahre wiederum sind an mir vorüber geglitten, dumpf und lautlos haben sie sich über mich gestülpt, mich unberührt gelassen in einer zähen, tranigen Wolke, in der ich nicht Fuß fassen und meine Blicke nur gesenkt halten konnte. Vor mir ist nur ein Weg gelegen, dem es zu folgen galt, doch bin ich stets zu klein, zu breit, zu laut oder zu leise gewesen, um folgsam zu sein, um die Abweichungen zu vermeiden, vor denen ich Angst, sehr große Angst hatte. Jeder Schritt ist ein tastendes, ein stolperndes Vor und Zurück gewesen, von einer Weite, in der ich mich bewegen, ich meine: tatsächlich bewegen hätte können, keine Spur. Gerne würde ich sagen, dass diese Jahre nicht zählten, doch bündle ich auch sie, das eine Mal zu einem Strauß verwelkter Möglichkeiten, den ich auf die Grabstatt eines, wie mir dann immer scheint, ein für alle Mal zurückgelegten Ich platziere. Das andere Mal binde ich die trüben Jahre zusammen mit ein paar der helleren, bewegteren. Wenn es mir gelingt, dieses Bündel, dessen Schimmer nicht Glanz und Glorie bedeutet, sondern Höhen und Tiefen, Engen und Weiten, mit zärtlicher Gelassenheit zu betrachten, dann weiß ich, dass ich in diesem Moment das richtige Alter habe, dass ich alt genug, dass ich jung genug bin, um mit mir und meinen Jahren leben zu können.

 

II.

Nach dem Alter aber wird immer so gefragt, als ließen sich die Jahre, die eine_r auf dieser Welt verbracht hat, in eine Zahl fassen, die eine_n stichhaltig ausweisen und einer bestimmten Gruppe zuordnen kann. Es sind nicht die Jahre, die aufgelesen und immer wieder gebündelt werden, die zählen, sondern die Zahl als Merkmal, als Kennzeichen einer Person. Dieser Abstraktionsgrad lässt sie schwindeln. Sie schultert ihr Bündel und versucht ein Gleichgewicht herzustellen zwischen sich und dem iksten Jahr, das sie angekreuzt, das sie angegeben hat, um sich für eine Wohnung, für eine Ausbildung, für einen E-Mail-Account, für Arbeitslosengeld oder ein Stipendium anzumelden. Der Weg, der zwischen ihr und der Zahl Iks liegt, ist oft weit. Die Zeit-, die Ortschwellen, die sie dabei überschreitet, um zu sehen, wer sie ist und wer sie ihrem Alter gemäß zu sein hat, dehnen sich aus, werden zu Räumen, die sie mit ihren Schritten durchmisst, in denen sie nach Anhaltspunkten sucht, um die Zahl Iks in den Griff zu bekommen.

In ihrem iksten Jahr durchwandert sie eine Steppe. Eine unglaubliche Weite liegt vor ihr, deren Ocker-, Beige- und Brauntöne in den Augen dröhnen. Sie versucht wegzusehen, den Blick zu senken, sich auf einen möglichen Pfad zu konzentrieren. Sie ruft sich vertraute Stimmen in Erinnerung, Stimmen, deren Schweigen viel zu laut geworden ist in dieser wüsten Endlosigkeit, in der nichts möglich ist, in der alles nur möglich bleibt. Sie spuckt in den Sand, sie spuckt so lange bis sich ein kleiner See vor ihren Füßen bildet, in den sie ihr Bild werfen kann. Sie ist sehr jung, viel zu jung, um an die Zahl Iks heranzureichen, in die ihre Jahre gekleidet worden sind. Weiter muss sie ziehen, dem Horizont entgegen, an dem sie nichts ausmachen kann, nichts anderes als ein Flimmern und Flirren, das sich mit jedem Schritt, den sie setzt, weiter entfernt.

In seinem iksten Jahr irrt er durch eine große Stadt, deren Straßen er nicht kennt. An allen Ecken trifft er auf Bekannte, die nicht glauben können, nicht glauben wollen, dass er immer noch auf den Beinen ist. Feucht werden ihre Augen, wenn sie ihn sehen, in ihren Tränen spiegelt sich die Zahl Iks, mit der er versehen worden ist, mit der er aber nichts anzufangen weiß, denn sie ist zu groß, als dass er durch die Straßen schlendern, ihre Namen noch nicht kennen, sich in ihnen verlieren könnte. Er versucht, sich den Stadtplan einzuprägen, sich mit dem Altbekannten aufs Neue vertraut zu machen, aber er schweift ab, er möchte etwas Anderes entdecken und unbeschwert sein.

In ihrem iksten Jahr fährt sie zur See. Von der Brücke ihres Ozeandampfers aus blickt sie auf die bewegten Jahre, die vor ihr liegen. Ein unbändiges Wogen, ein ständiges Auf und Ab, in das sie ihr Bild wirft. Es entspricht der Zahl Iks, die sich am blauen Horizont kräuselt und die auch ihr Alter ist. Auf der Überfahrt endlich entspricht die Kennzahl der Person, sie werden beide richtig übersetzt. Auf dem Weg, den sie auf hoher See zurücklegt, ist der Weg zwischen ihr und der Zahl Iks schon zurückgelegt worden. Auf diesen Satz muss sie sich stützen, denn sie spürt ein leichtes Schwanken. Sie konzentriert sich auf den gekräuselten Horizont, auf die Zahl Iks, die sich auf ihm abzeichnet. Die Gefahr, den Halt zu verlieren, wird größer. Sie klammert sich an das Bild, das sie in das Wogen, das Auf und Ab geworfen hat, aber es verschwimmt vor ihren Augen. Ihre Beine sind schwer, sie taumelt und torkelt über das Deck. Die bewegten Jahre, die vor ihr liegen, möchte sie eintauschen, sie möchte sich in stilleren Wassern wiedersehen. Sie ist alt, so alt, dass ihr der höhnische Wink der Zahl Iks in alle Glieder fährt.

Der Weg, der zwischen einer_einem und der Zahl Iks liegt, ist weit, und eine_r wird nicht gut ankommen, so sehr eine_r sich auch bemüht, wüste Unendlichkeiten zu durchqueren, sich Straßenzüge einzuprägen und sich auf Kurs zu halten. Sobald eine_r ihr_sein Alter angibt, wird eine_r von etwas erfasst, dem eine_r nicht gewachsen ist, dem eine_r nicht gewachsen sein darf. Eine_r muss weiter, immerzu jenen Ansprüchen entgegen, die eine_n im iksten Jahr zur Ordnung rufen. Anhand der Altersangabe wird eine_r ein-, wird eine_r ausgewiesen, die Zahl ist nicht glatt, sie flimmert und flirrt, sie verhöhnt.

Die Kennzahl, die an eine Person gehaftet wird, variiert, sie ist ein Merkmal, das einmal dieses, einmal jenes bedeutet: In ihrem iksten Jahr gilt sie als Konsument_in für jung – sie benötigt noch kein Mobiltelefon mit großen Tasten –, als Arbeiter_in aber schon für alt – sie hat Lücken im Lebenslauf –, als Mann für reif – sie hat ein paar graue Haarsträhnen – und als Frau für alt – sie hat ein paar graue Haarsträhnen.

Das ikste Jahr ist nicht für alle gleich.

 

III.

Und dennoch ist das Alter gefragt. Die Nachfrage ist sogar sehr groß. Die in eine Zahl gekleideten Jahre, die eine_r auf der Welt verbracht hat, werden zu Markte getragen. Nicht nur auf dem Markt persönlicher Eitelkeiten werden Wechselkurse angeben, denen zufolge iks Jahre als jung und iks Jahre als alt gelten. Von Gleichgültigkeit kann dabei keine Rede sein.

Sein ikstes Jahr trägt er auf den Markt, um es einzutauschen gegen eine Zukunft. Bestürzte Blicke erntet er und lautes Kopfschütteln. Zu viele Spuren schon habe die Zeit hinterlassen in seinen Gesten, auf seinem Gesicht, der Verlauf seines Lebens sei löchrig, Trödelware, die er hier anbiete, und für die er doch hoffentlich nicht zu viel erwarte. Er zieht sich zurück und nimmt einen weiteren Anlauf. Er strafft sich, streicht das Gewebe glatt, bügelt die Falten aus und stopft die Löcher. Die Blicke werden milder, das Kopfschütteln leiser. Mit diesem Flickwerk, das, nun ja, schon etwas eigenwillig sei, ließe sich mitunter noch etwas anfangen, hört er und bekommt ein Angebot, auf das er nicht gleich eingehen kann, denn etwas mehr Zukunft hätte er doch gerne gehabt für sein ikstes Jahr. Die Frist aber laufe bald ab, wird er gewarnt, also läuft er wieder los, trennt die Nähte auf und versiegelt sie neu. Aus einem Guss muss er sein, ganz aus einem Guss, den es aber nie gab, den es nicht gibt, denn die Jahre, die er aufliest und anträgt, sind ein Bündel, dessen Schimmer nicht Glanz und Glorie, sondern Höhen und Tiefen, Engen und Weiten bedeutet.

Sie trägt ihr ikstes Jahr auf den Markt, um es einzutauschen gegen eine Vergangenheit. Der Blick ist ungläubig, das Lächeln ironisch. Viel zu spurlos sei die Zeit an ihr vorübergegangen, womit sie hier denn überhaupt aufwarten wolle, mit einem weitgehend unbeschriebenen Blatt etwa, auf dem sich nur einige Skizzen befänden? Unausgereift sei das und unausgegoren, warten solle sie und Erfahrungen sammeln. Also macht sie sich auf, zieht den Hut vor diesen und jenen, um aufzufangen, was für sie abfällt an Ratschlägen und Aufträgen, an An- und Zuweisungen. Doch so sehr sie sich auch bemüht, aus all dem Aufgeschnappten und Erhaschten einen flexiblen, elastischen Stoff zu wirken, sie wird immer etwas versäumen, jemand wird immer ihre Wirkweise überbieten.

Sie werden nicht hin-, nicht zulänglich genug sein, so sehr sie sich anstrengen bei ihrem Gewirke, das sie eintauschen möchte gegen eine Vergangenheit, so oft er sich auch in den Finger sticht bei seinem Flickwerk, für das er gerne eine Zukunft hätte.

In ihrem iksten Jahr sind sie zu alt, aber sie sind zu jung, der Marktwert schwankt, den Zickzackkursen folgen sie, sie setzen sich ein, ihr Einsatz gilt, oder auch nicht, sie machen sich älter, sie machen sich jünger, Lücken klaffen auf in ihrem Lebenslauf, sie setzen an, hechten darüber, ein Radschlag, ein Hand-, ein Kopfstand, weiter so, iks Jahre noch, dann wird es soweit sein, dann wird es vorbei sein, schnell noch, schnell, bevor es zu spät ist, schnell nur schnell vorbei an den Plakaten, die ein Altern in Würde versprechen, Senior_innenheime und Anlagewohnungen laden sie ein, auch schon in jungen Jahren zu investieren, aber was sollen sie anfangen mit einem Altern in Würde, wenn es keine Würde mehr gibt, wenn es in jedem ihrer iks Jahre an Würde fehlt, wenn dem Altern die Würde immer schon aberkannt worden ist, da Würde und Marktwert unvereinbar sind und die Würde des Menschen sich in keine Zahl Iks kleiden lässt?

 

IV.

In meinem iksten Jahr stehe ich also vor Ihnen, in meinen Händen das Bündel an Jahren, die ich auf dieser Welt verbracht habe. Sein Schimmer bedeutet nicht Glanz und Glorie, sondern Höhen und Tiefen, Engen und Weiten. Gerne würde ich mich Ihnen nur von meiner besten Seite zeigen. Noch lieber aber möchte ich Sie fragen, ob Sie mit mir nicht einen Augenblick lang dieses Bündel mit zärtlicher Gelassenheit betrachten, ob Sie nicht kurz absehen wollen von der Frage, wie alt ich sei. Vielleicht wollen wir auch gemeinsam beschließen, dass wir das richtige Alter haben, dass wir alt genug, dass wir jung genug sind, um mit uns und unseren Jahren zu leben.

Wenn Sie also einverstanden sind, dann lassen Sie uns zusammen lachen, weinen und fluchen, wenn wir darauf verzichten, unsere Gewebe glatt zu streichen, die Falten auszubügeln und die Löcher zu stopfen, wenn wir damit aufhören, den Hut vor diesen und jenen zu lüften, um aufzufangen, was für uns abfällt. Lassen Sie uns die Fäden ziehen aus den Flickwerken, die wir zu Markte tragen, aus den Gewirken, die stark und doch elastisch sein müssen, um geschätzt zu werden. Lassen Sie uns mit den Fäden, die wir gezogen haben, an Netzen weben, die löchrig sein können und tragfähig, schlüpfrig und fest, ganz so, wie wir sie haben wollen, wie wir sie brauchen, um uns aufzufangen, um Zeit-, um Ortschwellen zu übertreten, um zu sehen, wer wir waren und wer wir geworden sind.

 

Inspiriert von:

Bachmann, Ingeborg: Das dreißigste Jahr. In: Ingeborg Bachmann: Gedichte, Erzählungen, Hörspiel, Essays. München: Piper 1999, S. 78-121,
De Beauvoir, Simone: Das Alter. Übers. Anjuta Aigner-Dünnwald und Ruth Henry, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2000,
TIQQUN: Grundbausteine einer Theorie des Jungen-Mädchens. Übers. vom philologischen Arm der deutschen Sektion der Parti Imaginaire. Berlin: Merve 2009,
sowie von Gesprächen mit Andi, Brigitte, Christoph, Elena, Jiaspa, Kaśka, Regine, Yves.

Essay#4PS