Bunt.

 

Die Körner rasseln in die Getreidemühle. Bio Kamut. Ur-Weizen. Nele drückt den Schalter. Das Korn prasselt, unten stäubt es: frisches Mehl. Nele hält die Tüte, damit nichts daneben fällt. Hinter ihr kreischt ein Kind und schiebt den Einkaufswagen mit voller Wucht gegen das Kartoffelregal. Nele geht gern in den Bioladen. Die Menschen sind hier natürlicher als auf der Straße oder beim Aldi. Sie tun, was sie wollen, vor allem die Kinder. Nele macht von dieser Freiheit kaum Gebrauch, aber sie mag es, wenn die Leute ganz bei sich selbst sind. Gesunder Egoismus, den sie auch lernen möchte. Nele denkt maximal zweidimensional. Sparsam. Bescheidenheit ist eine Zier. Nele ist zu bescheiden. Hat der Homöopath gesagt und Bachblüten verschrieben. Aspen, Mimulus und Rock Rose. Weil Nele Angst hat. Hat der Heiler gesagt. Gegen Angst helfen keine Blutegel. Das Kind hat den Einkaufswagen jetzt in das Bioweinregal gerammt. Nele lächelt. Die Mutter des Kindes lächelt. Kinder sollen stark sein und unabhängig. Man sieht dem Kind nicht nur im Gesicht an, dass es schon sehr stark ist. Auch die Kleidung ist farbenfroh und schreit gegen das Grau des Lebens an. Orange, grün, gelb und rot. Nele mag die Erdfarbenästhetik der Bioproduktverpackungen. Sanfte Getreidefelder unter befreiten Himmeln. Alte Schriftarten auf Tüten und Päckchen. Heile Welt. Saubere Ware. Das Kind mit dem gelben Schal häuft fair gehandelte Schokolade in den Einkaufswagen. Jetzt platzt die Mutti doch noch. An der Pinwand bunte Plakate mit lächelnden Gesichtern erlöster Menschen. So erlöst, dass sie andere auch erlösen können. Und wollen. Für Geld. Erlösung bekommt man nicht geschenkt. Erleuchtung kostet noch mehr. Nele würde etwas mehr Gelassenheit schon reichen. Das Kind ist ihr jetzt mit dem Wagen in die Hacken gefahren. Dabei singt es ein Lied. Nele ist sensibel. Man sieht an der geduckten Haltung, dass sie Gefahr wittert. In Neles Gesicht arbeitet es ständig. Kleine Gewitter zucken über ihre feinen Züge. Es leuchtet und blitzt, die Mundwinkel beben. Kinder sollen stark sein und unabhängig. Und dabei singen. Nele ist einfach zu schwach für diese Welt. Oder zu dumm. Sozial inkompetent. Weil sie die Regeln nicht versteht. Weil sie sich nicht durchsetzen kann. Weil sie kein starkes Ich hat. Hat der Therapeut gesagt und gelächelt. Und dass es exemplarisch sei, wenn jemand aus einem kernigen Namen wie Cornelia etwas so Weiches mache wie Nele. Eine Abkürzung wie ein Schritt nach hinten, Richtung Wand. Lallsprache. Babysprech. Verbaler Fußtritt gegen die Emanzipation der Frau. Nele greift eine Packung Bruderhuhneier. Weil sie nicht möchte, dass männliche Küken geschreddert werden, bezahlt sie pro Ei acht Cent mehr. Für jedes Bruderhuhnei darf ein Hähnchenküken weiterleben. Und später als Biobroiler verkauft werden. Nele ist sensibel. Das Leid der Tiere tut ihr weh. Sie selbst tut sich nicht leid. Nele ist schwach. Und selbst daran schuld. Hat der Therapeut gesagt. Hat der Homöopath gesagt. Hat der Heiler gesagt. Nele soll an sich arbeiten. Hart. Um stark zu werden. Und gelassen. Nele schiebt ihren Wagen jetzt etwas schneller. Rumpelt ihn sacht gegen die Stiege mit den dreckigen Biomöhren. Zieht den Kopf ein und lächelt. Immerhin. Ein Anfang.

 

Alle Rechte zum Text verbleiben bei der Autorin.

Prosa#4PS