ZwischenLand

Es ist eine Grenze. Grenze ist ein abstraktes Wort. Grenzen sind eine Gemeinheit, sie lassen sich denken, aber nicht sehen. Ich halte mich abseits der Straße. Ich kann das trotzdem lesen, klar und gelb auf blau, da steht ein Name auf dem Schild. Der Titel für ein Stück Erde, der jedoch nichts mit der Erde selbst zu tun hat. Es ist auch nur ein Schild, das keinerlei deiktische Zeichen beinhaltet, es weist keine Richtung. Gehe ich über dieses Abstraktum, dann begehe ich Hausfriedensbruch. Das kann schon aus Versehen passieren, wenn da kein Zaun und nichts ist. Wo genau ist diese Grenze? Mein Navigationsfeld hat schon lange keinen Kontakt und es schwirrt ein sich drehender Kreis wartend auf dem Bildschirm. Aber hier muss die Grenze sein, das Schild zeigt sie an. Hier wächst eine Fichte, deren Wurzeln könnten sich um je eine Seite der Grenze schlingen, sie könnte die Grenze unter sich bergen, ein Schutzmechanismus. Sie hat die Grenze in sich, sie ist das Phänomen der Grenzziehung, ein loses Zusammenstecken zweier Teile. Ich schaue mich um, über mir schwebt wie losgelöst vom Boden ein Ast der Fichte. Auf welche Seite der Grenze gehört er?

Im letzten Tagesleuchten sitzt die Müdigkeit auf mir. Mit Blick auf mein Mobilfeld erkenne ich die Richtigkeit meiner Zeitplanung, ich habe eine Pause verdient. Ich setze mich mit knirschenden Gliedern an die Fichte und hole ein altes Päckchen Kekse aus dem Rucksack. Der lange Marsch hat Energie verbraucht, die klebrige Erde an meinen Fußschonern festgehalten. Ich lehne an der Fichte und weiß nicht auf welcher Seite der Grenze ich sitze, für einen Moment koste ich aus, nicht zu wissen, wo ich bin. Es ist die Natur der Dinge, der Menschen, sich zu verorten. Ich bin ortlos, ich bin der Zeit voraus. Die Kekse haben Buttergeschmack und grob Raffiniertes. Trotz des Windes ist meine Stirn feucht. Ich lehne am Stamm, der sich knorrig in den Boden stemmt. Die Sonne dreht sich langsam weg. Ich denke an die Geige, die ich natürlich nicht bei mir trage, aber an sie zu denken ist schön. An einem verortbaren Ort, der für mich nun unverortbar geworden ist, stand immer, wenn ich zwischen der Arbeit an die Geige dachte, Isoken vor mir, bereit, mit der Sitar einzustimmen. Bereit, sich zusammen zu stimmen. Wir verknüpften uns. Lenkten unsere Register von der Banalität der schrittartigen Arbeit fort. Es musste nicht gesprochen werden. Ich schließe die Augen. Lächeln. Für einen Moment. Im nächsten fällt mir das Mobilfeld ein. Die Nachricht: ein Uhr, unteres Grenzgebiet, sei pünktlich. Pünktlich bin ich, weit mehr als das. Das Programm sagt: Weitergehen. Ich kaue den Brei runter, messe meinen Blutdruck, 120 zu 84. Kurz warten, jetzt kann ich aufstehen. Es wäre alles ganz einfach, hat die Große von der Zentrale gesagt. Die luftbedingten Änderungen seien kein Hindernis, schließlich hätte ich den Mundschutz. Schon eher die Magnetfelder, die im Gras versteckt sind. Und die – für welche wie uns – gefährlichen Kleintiere, die kriechen unbemerkt in Ritzen und lassen das Gehirn stocken. Schnell gehe es. Wenn ich die Kleidervorschriften einhielte, würde mir nichts geschehen. Den Mundschutz tragen. Auf keinen Fall Nahrung zu mir nehmen. Am besten den Auftrag schnell erfüllen und direkt zurückkehren.

Es geht tatsächlich schnell. Von der Fichte aus trenne ich mein Bein vom Boden und setze es in Schrittweite wieder auf. Ein kleiner Schritt, er kostet mich viel Überwindung. Ich gehe zwei, drei Schritte weiter. Schaue mich um, da steht die Fichte friedlich auf einem Feld, das aussieht wie eine braune Einheit. Die vertraute Seite der Grenze liegt brach, meine Heimat. Ich fühle mich auf dieser neuen Seite nicht sicher, das hatte ich schon befürchtet. Das Programm sagt: Weitergehen. Ich senke mein Kinn und gehe schnell, möglichst weg aus Sichtweite der Straße, versuche mich trotzdem parallel zu ihr zu halten. Das Programm sagt: Nicht gesehen werden. Irgendwann am Ende dieser Straße kommt mein Zielort, das hatte das Navigationsfeld vorhin angezeigt. Ich weiß nicht viel von dieser Seite der Grenze. Isoken hat einmal gesagt, die Menschen hier könnten nicht arbeiten. Die Luft sei zu schlecht. Die von der Zentrale hat gesagt, den Menschen hier ginge es schlecht. Ohne Arbeit lässt es sich schwer leben. Ich versuche mir das vorzustellen, es ist mir nicht möglich. Das erste Kleintier schwebt vor meinem Gesichtsnetz. Ich sehe seine vielen Beinchen, die winzigen, unzähligen Augen, es brummt unerträglich, ich greife nach ihm, es reißt sich los und fliegt weiter. Die Luft auf dieser Seite der Grenze ist voll von Kleingetier. Vorsichtshalber schalte ich mein Register auf wachsam. Ich schaue auf das Mobilfeld. Noch immer keine Nachricht. Yôrick Fenrög ist meine Kontaktperson auf dieser Seite. Unmöglicher Name ist das, den kann mein System nicht aussprechen, nur lesen. Yôrick Fenrög wird neue shortgoals in das Programm eingeben. Die Große von der Zentrale hat gesagt, ich solle dem Programm folgen, bis die Kontaktperson sich meldet. Das Programm sagt: Weitergehen.

Die Luft ist kalt, mein Atem dehnt sich durch den Mundschutz in mechanischem Tempo aus. Die Berge stechen links und rechts aus der Erde, an den Anblick habe ich mich immer noch nicht gewöhnt, ich fühle mich nicht wohl so tief unten. Ich werfe einen Blick auf mein Mobilfeld. Nichts. Die Sonne wird rot über den Wäldern. Die Grenze, die ich hinter mir vermute, schimmert rosenfarben. Mein Register kommt nicht zurecht mit diesen Nuancen. Ich gehe stur geradeaus. Es vergeht Zeit, die Landschaft verändert sich nicht. Mein Register nimmt keine Anzeichen magnetischer Felder im Gras wahr. Es scheint, als würde es grüner. Die Straße ist längst nicht mehr sichtbar, ich denke, sie ist hinter einen der Hügel gekrochen. Ich spüre Energieverlust. Auf einmal habe ich Angst, dass ich die Grenze gar nicht überschritten habe. Könnte es sein, dass ich noch immer auf ihr laufe? Auf dem Navigationsfeld dreht sich der Kreis. Mein Programm sagt: Weitergehen. Da leuchtet mein Mobilfeld auf. Yôrick Fenrög schreibt: Stehenbleiben. Ich bleibe stehen und warte. Bevor ich aufgebrochen bin, hat Isoken gesagt: Pass auf dich auf. Ich warte, mein Register ist auf Alarmbereitschaft gestellt.

Yôrick Fenrög kommt. Sieht so ein Mensch auf dieser Seite der Grenze aus? Noch nie habe ich solche Farben gesehen. Sie trägt glänzende Kleidung. Das Programm sagt: Ungewohntes ignorieren. Ich warte geduldig, bis Yôrick den Hügel hinaufgestiegen ist, sie hat einen silbernen Mundschutz, ihre Gelenke brechen sich im Sonnenlicht. In der Art, wie sie läuft, erkennt mein Register Angespanntheit. Are you 265? –yes, antworte ich. Do you have the code? – e450.od. Sie nickt, packt meinen Arm, es ist fast schmerzhaft, sie öffnet die Klappe meines Mobilfeldes und rammt mir einen Chip in die Öffnung. Ich bin erschrocken, eine solche Behandlung habe ich noch nicht erfahren. Das Programm sagt: Nicht sprechen. Ich bin still. Yôrick tippt nun die shortgoals für das Programm in das Feld an meinem Arm. Das Programm lädt. Das Programm sagt: Kontaktperson folgen. Yôrick läuft schneller als ich. Sie führt mich zum Waldrand. In der Ferne erkenne ich die Umrisse einer Ortschaft. Ich versuche das Register schärfer zu stellen, aber ich kann nicht viel mehr erkennen. Hurry. This way, sagt Yôrick, in ihrer Stimme erkenne ich Merkmale von Unfreundlichkeit.

Ich sehe gleich, wofür ich hierher beordert wurde. Das Gebäude am Waldrand ist grau, wie auf unserer Seite. Es führen mehrere Stahlseile über eine Straße an Masten zu ihm hin. Mein Register zeigt ein hohes Maß an Energieproduktion an. Außer Yôrick ist hier kein Mensch. Das Programm sagt: Arbeitsstufe 1. Ich aktiviere Arbeitsstufe 1 und gehe an Yôrick vorbei durch die Tür des Gebäudes. Drinnen bleibe ich stehen. Das Programm sagt: Weitergehen. Ich nehme das gelbe Leuchten wahr, das in der Luft schwebt. Ich nehme die roten Lämpchen an den Generatorschaltflächen wahr. Ich nehme das laute Piepen wahr, das meine Sensoren in dreifacher Stärke weiterleiten. Das Programm sagt: Weitergehen. Ich stehe noch immer. Von draußen schreit Yôrick: Hurry! Das Programm sagt: Arbeitsstufe 1. Weitergehen. Ich müsste gehen. Ich stehe. Ich sehe, wie die Anzeige an den Schaltflächen immer röter wird. Meine Fußschoner sind wie verbunden mit dem Boden. Das Schrillen wird schneller. Ich weiß jetzt, wenn ich weiter reingehe, komme ich nicht mehr raus. Ich renne los. Aus dem Gebäude, an Yôrick Fenrög vorbei. Das Programm sagt: Umkehren. Ich laufe in Richtung Ortschaft. Mein Register hat auf die Schnelle keinen anderen Referenzrahmen gefunden. Yôricks Rufe hallen in meinen Tonsensoren. Das Programm sagt: Umkehren. Ich renne. Das Programm fängt an zu piepen. Es sagt wiederholt: Umkehren. Ich renne, bis meine Energieversorgung es nicht mehr zulässt.

Kurz vor den ersten Häusern der Stadt keuche ich durch meinen Mundschutz und beuge mich der Erschöpftheit. Ich drehe mich um, von Yôrick Fenrög ist nichts zu sehen. Ich strauchele, sehe das erste Haus. Es ist gläsern. Es hat Wände aus Glas. Diese unerwartete Tatsache kann ich kaum fassen. Ich gehe näher heran. Es stehen Menschen davor. Sie arbeiten an einem Gerüst und… ich stelle das Register schärfer. Sie arbeiten nicht: Sie schieben einen kleinen Menschen auf einem am Gerüst hängenden Gerät hin und her, der lacht. Mein Register stockt. Die Menschen tragen keinen Mundschutz. Ich laufe fassungslos in den Ort hinein. Sie sitzen am Straßenrand und trinken und essen! Sie lachen laut, ohne Mundschutz! Ich zwinge meine Füße weiterzugehen. Mein Mobilfeld blinkt. Yôrick Fenrög schreibt. Stehenbleiben. Ich gehe weiter, die Menschen sehen mich und starren. Ich nehme Merkmale von Unfreundlichkeit wahr. Ich sehe keinen Menschen, der arbeitet. Isoken hatte recht, denke ich entsetzt. Doch die Menschen hier sehen nicht aus, als ginge es ihnen schlecht. Ich sehe Isoken vor mir, in schwarzem Kittel und gelbem Register und Dreck an den Fußschonern und hungrigem Blick. Ich sehe die Mine vor mir, die dunkle, die feuchte Arbeitsluft, die die Geräte schädigt. Ich betrachte die Menschen in weißen Kleidern, ich renne auf die Tische zu. Sie stieben auseinander, sie schreien laut um Hilfe. Ich betrachte die Tische voller Essen. Ich reiße mir den Mundschutz ab. Die Luft nimmt mir fast den Atem. Es ist klare Luft. Ich stopfe mir zusammengesetztes Essen in den Mund. Die Luft strömt durch meine Sensoren. Es schwindelt mir, ich kaue und schlucke. In mir entzünden sich tausend kleine Geschmacksneuheiten. Mein Programm piept und blinkt und ruft: Unregistrierte Nahrungszufuhr. Und: Umkehren. Yôrick Fenrög! Ich renne wieder, versuche mich in Richtung Berge zu orientieren, mein Schwindel hält an, meine Sensoren überfordert mit der Luftzufuhr. Ich verlasse die Ortschaft, ich höre hinter mir laute Rufe. Ich suche die Grenze. Ich möchte zu Isoken. Ich renne gegen meine Schwäche an. Das Programm schreit: SOS.

Plötzlich stehe ich vor einer Gestalt. Ich schlucke den nicht vorhandenen Speichel. Ich strecke meine Hände nach ihr aus. Es ist meine Fichte. Ich bin wieder an der Grenze angekommen. Ich lache vor Freude. Die Straße schlängelt sich links von mir über den Hügel. Genau derselbe Punkt, an dem ich vorhin stand. Die Fichte lächelt mich freundlich an. Sie streckt ihre Arme nach beiden Seiten und umarmt mich mit harzduftendem Orange. Dann schiebt sie mich neben sich direkt vor die Stelle, über die ich vorhin gegangen bin. Die Fichte nickt mir beruhigend zu. Ich taumele ein bisschen nach rechts. Mir tut nichts weh. Das Schild auf der Straße leuchtet wie von innen. Hinter der unsichtbaren Linie geht die Wiese weiter in braun über. Ich liege. Ich spüre meinen Körper nicht mehr. Ich sehe die Fichte nicht mehr. Es ist Yôrick Fenrög, die sich über mich beugt. Sie trägt einen schwarzen Mantel und eine Mundmaske. Sie schnalzt zweimal laut mit der Zunge, unendlich langsam. Neben ihr tauchen zwei weitere Personen in Mänteln auf. That’s it? fragt einer der Mäntel. Yôrick Fenrög nickt. Mein Register piept müde. Ich taste nach den letzten Essensresten und schiebe sie mir mühevoll in den Mund. Yôrick schnalzt. Eine Person zieht etwas Schwarzes aus ihrer Tasche und richtet es auf mich. Ich schaue in den Nachthimmel, dessen Sterne durch grüne Linien verbunden sind. Grenzen zwischen Sternendynastien. Steh auf, sagt eine Person. Du musst tun, was das Programm sagt. Das Programm sagt: Umkehren. Ich sehe nur den Himmel, die Punkte die sich zu Grenzen verknüpfen lassen. Mein Register blinkt, ich erkenne, die Sterne zeigen an, wo hier Grenzen verlaufen. Alles rauscht. Steh auf, sagt noch einmal eine der Gestalten. Ich spüre wie eine Person meinen Arm packt und den Chip herausreißt. Dann wird es still.

Prosa#3PS