Von Musik und Menschen
Sie geht in eine Ausstellung1, in der zu Diashows Musik läuft. Danach sucht sie die gemerkten Textfetzen im Internet, um herauszufinden, von wem die Mucke war, auf welcher Platte das Lied ist. Dann ruft sie sofort ihren Plattenhändler an und bestellt die Scheibe. Vinyl, keine CD. (Wenn die Textstelle gar nicht „You are my assistant“ sondern „You are my sister“ heißt, hat sie ein Problem. Dann geht sie noch einmal in die Ausstellung oder fragt jemanden, der besser Englisch versteht.)
In ihrem Haushalt gibt es drei Ausgaben der Rockbibel, eine von 1995, eine von 2002 und eine Ausgabe für „Alternative Music“.2
Sie hat Angst, ihren Ruf zu ruinieren, wenn sie gesteht, dass sie eine Platte von Herbert Grönemeyer besitzt und würde niemals zugeben, dass sie zwei Lieder von Dolly Parton großartig findet.
Sie nimmt mit Gleichgesinnten Best-of-Kassetten auf, die sie monatelang systematisch vorbereiten. Sie verwerfen die Konzepte stündlich und schaffen es doch irgendwann. Wenn sie diese Kassetten jemandem vorspielen, sagen sie: „Das ist aber die Wahl von heute, das kann morgen ganz anders aussehen.“ Oder sie treffen sich, hören ihre Best-of-Kassetten gemeinsam an und diskutieren darüber, ob es sinnvoll ist, 20 von 90 Minuten für „You do right“ von Can zu verschwenden bzw. zu investieren und ob man seinen Ruf riskiert, wenn man „Coco“ von The Sweet auf seiner Kassette hat. Sie erstellen in Excel Statistiken, welche Bands am häufigsten vertreten sind, welches Lied von diesen Bands das Beste ist (ermittelt durch Abstimmung aller Beteiligten nach einem ausgeklügelten System3) und machen aus diesen Songs Best-of-best-of-Kassetten, die sie kopieren und verteilen.
Wenn sie morgens um sieben Uhr von der Freundin ihrer Mitbewohnerin nach ihren drei liebsten Platten der Neunziger gefragt wird, hat sie eigene Listen der letzten zwanzig Jahre parat mit den besten Platten, besten Liedern, besten Bands, besten Sänger*innen – säuberlich nach Jahren geordnet. Sie weiß, wer wo den Bass zupft, wer welches Coverphoto gemacht hat und warum Stevie Wonders „Pasttime Paradise“ um Lichtjahre besser ist als die Coverversion von Coolio. Sie weiß, woran Sandy Denny gestorben ist4 und hat ihre Platten nicht alphabetisch, sondern chronologisch sortiert: nach Anschaffungsdatum.
Sie nimmt Kassetten auf, wo im ersten Titel eine „Eins“ (oder „one“ o.ä.), im zweiten eine „Zwei“ (oder „two“ o.ä.) vorkommen muss und nennt diese dann „Ich kann zählen“. Sie hat auch Kassetten, wo in jedem Titel ein Getränk vorkommt oder wo in jedem Lied jemand stirbt. Sie macht Kassetten mit Liedern, die keinen Vier-Viertel-Takt haben oder die weder auf deutsch noch auf englisch sind oder sie nimmt für die A-Seite „This town ain’t big enough for the both of us“ von den Sparks und für die B-Seite „Everybody's got something to hide except me and my monkey“ von den Beatles und dann muss in A1 „This“, in A2 „Town“ bis hin zu B10 „Monkey“ im Titel vorkommen.
Sie erzählt begeistert von der „besten Band der Welt“, die kaum jemand kennt. Sie spielt die „beste Scheibe“ der „besten Band der Welt“ vor, die den meisten Menschen nicht gefällt. Und sie bleibt ratlos zurück, wenn eine Person sagt, dass sie wirklich keine Kassette mit den besten Stücken dieser Band von ihr möchte.
Sie geht niemals mit einer Person ins Bett, die mehr als eine U2-Platte besitzt. Sie lädt keinen Menschen zum Essen ein, der von den Butthole Surfers sagt, sie wären „zu unmelodisch“. Sie misstraut allen, die Tuxedomoon nicht kennen. Sie schenkt niemals einer Frau eine CD, die Funny van Dannens „Menschenverachtende Untergrundmusik“ als lärmig bezeichnet.
Sie versteht die Menschen nicht, die CDs in Sammelmappen herumtragen und sagen, „die Cover liegen noch bei meinen Eltern, die brauche ich nicht“.
Sie hört bei jemandem zu Hause ein Lied, fragt nach, von wem das ist und bekommt zur Antwort: „Keine Ahnung. Hab ich von xy gebrannt bekommen“. Darüber ist sie sehr irritiert.
Wenn sie jemandem Musik schenkt, dann ist das eine ganz persönliche Botschaft. Sie versteht nicht, wenn diese Person ihr trotz penetranter Nachfrage nicht erzählt, was ihr warum gefallen hat und was nicht. Und sich später an Lied 20 nicht erinnert.
Wenn sie selbst eine Musik-CD geschenkt bekommt, die noch nicht einmal beschriftet ist, ärgert sie sich über diese Rücksichtslosigkeit, hört die CD einmal beim Abwaschen und wirft sie dann weg.
Wenn sie aber die Person mag, von der sie die CD bekommen hat oder ein Stück dabei war, das interessant klang, setzt sie sich aufs Sofa und hört die CD ganz in Ruhe an. Dabei merkt sie sich die Nummern von den Stücken, die ihr gefallen haben und hört sie öfter. Als Nächstes macht sie ein provisorisches Cover, auf dem sie die ihr bekannten Stücke aufschreibt. In die Lücken kritzelt sie ein paar Notizen, um die fünf schönsten Stücke wiederzufinden. Tagelang hört sie dann zum Einschlafen diese fünf Stücke. Später schreibt sie beim Hören Textstellen auf, sucht im Internet und findet so Titel, Bands und Sänger*innen heraus. Dabei liest sie die Texte genau durch und ergründet, ob sie eine Botschaft an sie enthalten. Anschließend macht sie ein professionelles CD-Cover, vermerkt alle Titel sauber darauf und bastelt aus den Texten ein Booklet. Zu guter Letzt sucht sie die Bands und Sänger*innen der schönsten Lieder im Internet und hört sich andere Sachen von ihnen an.
Anschließend setzt sie sich hin und plant eine CD, die sie zurückschenken kann. Sie durchforstet ihre Plattensammlung und sucht möglichst völlig unbekannte Stücke, die im Stil denen auf der anderen CD ähneln, macht ein Konzept – und sieht plötzlich ganz deutlich, dass „Musikisch“ eine Sprache der Missverständnisse ist5.
Sie sieht, dass sie die Idioten und Psychopathen in ihrem Umfeld auf diesem Weg kennengelernt hat. Der Mensch, dem sie 40% ihrer Musiksammlung verdankt, ist ein koksender Zyniker, der ihr das zweifelhafte Kompliment gemacht hat: „Du bist die erste Frau mit einem guten Musikgeschmack.“ Ihre tiefe King-Crimson-Seelenverwandtschaft zerbrach, weil der Kerl krankhaft eifersüchtig war. Die wirklich guten und wertvollen Menschen um sie herum verhalten sich völlig anders, was Musik betrifft. Ihr allerbester Freund findet Mixkassetten total daneben, denn er hört immer die ganze Platte (auch wenn nur ein einziges gutes Stück drauf ist). Ihre langjährige Freundin kann zwar alle Texte von Bad Religion auswendig, besitzt aber nicht einen einzigen eigenen Tonträger, sondern hört nur Radio.
Sie begreift, dass ein Geschenk nur ein Geschenk ist, wenn sie dafür nichts erwartet. Dass die Belohnung schon darin liegt, eine Freude zu bereiten, jemanden zu „bereichern“, und nicht darin, etwas zurückzubekommen. Wenn sie eine Tanz-CD verschenkt: Reicht es nicht, wenn jemand zu der Musik tanzt? Braucht sie dann wirklich noch einen Extra-Dank und eine Bemerkung zu jedem einzelnen Stück?
Und dann fallen ihr auch noch die ganzen Geschenke ein, die sie selber „von Herzen“ bekommen und ignoriert hat: die Bücher, die sie nicht gelesen hat oder doof fand; die Leckereien, die sie eklig fand; die Kinotipps, die sie nicht beachtet hat; alles, was anderen vielleicht so am Herzen liegt wie ihr die Musik.
Sie geht an ihr CD-Regal, nimmt jede 11. CD und kopiert davon jeweils das 5. Stück, bis die CD voll ist. Sie verschenkt diese CD unbeschriftet und erwartet dafür keinen Dank mehr. Kein Feedback. Kein Lob, keine Bemerkung. Sie fragt nicht nach. Nein, sie geht soweit, dass sie nicht einmal Interesse erwartet. Nach 14 Tagen hat sie vergessen, dass es diese CD jemals gab.
1 wie z.B. die Nan-Goldin-Ausstellung, 2009 im c/o Berlin
2 The Great Rock Discography, M. C. Strong, Zweitausendeins, ca. 1000 Seiten
3 Jede Person kann 7, 5, 4, 3 und 2 Punkte vergeben. Wer auf einem Konzert der Band war, darf für die Lieder dieser Band die Punktzahl verdoppeln.
4 Sie starb an einer Hirnblutung, nachdem sie die Treppe heruntergefallen war.
5 Was sie eigentlich schon hätte wissen können, seit sie 19-jährig „Nieder mit dem Fascho-Pack“ grölte, bis eine WG-Genossin sie darauf aufmerksam machte, dass „Nieder mit dem Warschauer Pakt“ nicht gut in eine linke Punk-WG passe.