Gedächtnisprotokoll Neujahr 2016
„Wer die Fähigkeit des Gedächtnisses trainieren will,
muss deshalb bestimmte Orte auswählen und von den Dingen,
die er im Gedächtnis behalten will, geistige Bilder herstellen
und sie an die bewussten Orte heften.“
Cicero aus: De oratore
Es war eine laute Party. Alle waren sehr betrunken und tanzten, Sabines Wohnzimmer war knallvoll, die Fenster aufgerissen, damit man das Feuerwerk sah und hörte. Der DJ hatte gerade von Disco auf Hip-Hop gewechselt. Ich erinnere mich genau daran, weil mich Frank von der Tanzfläche ins Nebenzimmer zog, als MC Hammers Stimme mit „Can’t touch this“ aus dem Lautsprecher kam und ich mir noch dachte, wie passend. Passend, weil auf dieser Party schon so viele Hände „unabsichtlich“ auf meinem Arsch gelandet waren. Davon wollte ich Frank erzählen. Aber ich kam nicht dazu. Frank hatte plötzlich diesen Gesichtsausdruck, der mich darauf vorbereiten sollte, dass jetzt etwas Ernstes anstand. Das Grölen aus dem Wohnzimmer war an einem Peak angelangt. Wahrscheinlich war es kurz vor zwölf. Frank musste mir ins Ohr brüllen. „Muss jetzt los“, schrie er. Und ich: „Warum?“ – obwohl ich es doch wusste, weil es jedes Jahr gleich ablief. Immer verließ Frank zu Silvester kurz vor zwölf die Party, auf der wir waren, um sich mit seinen Jungs zu treffen. Es sei eine Tradition, hat er mir beim ersten Mal erklärt. Die sei schon vor mir dagewesen. Die könne er meinetwegen nicht einfach kicken. „Und was macht ihr dann so?“, hatte ich gefragt, und er hat nur mit den Schultern gezuckt und verschmitzt gelächelt. Was Jungs halt so täten.
Beim ersten Mal hatte ich protestiert. „Wo ich herkomme, verbringen Paare den Neujahrsabend zusammen.“ Frank aber nur: „Wir sind doch schon Weihnachten zu deiner Familie nach Polen gefahren.“ Ob das nicht reiche. Ob ich dafür nicht seine deutschen Traditionen respektieren könne. Irgendwie fand ich dann, dass er Recht hatte. Auch wenn ich außer von ihm noch nie von dieser deutschen Jungstradition zu Silvester gehört hatte. Ich wollte nicht mehr darauf herumreiten. Sonst ist er immer für mich da. Also warum dann so einen Aufriss machen wegen einer Nacht im Jahr? Wir küssten uns zum Abschied. Mein roter Lippenstift klebte auf seiner Stirn. Das gefiel mir. Ich ging zurück ins Wohnzimmer, fühlte mich aber auf der Party zunehmend unwohl. Ständig spritzte mir etwas ins Gesicht oder auf meinen Rock. Ich wusste nicht, ob es Sekt, Speichel oder Schweiß war. Eklig, jedenfalls. Einige Männer hatten wegen der Hitze ihre T-Shirts ausgezogen. Ich war mehr damit beschäftigt den herumschwingenden Ellenbogen auszuweichen als zu tanzen und war selbst auch total verschwitzt. Betrunken nicht. Das nicht. Ich hatte ja schon vor der Party gewusst, dass ich alleine nach Hause gehen würde. Deshalb.
Ich zwängte mich zwischen den halbnackten Körpern und den Frauen, die in der einen Hand das Sektglas und in der anderen eine brennende Zigarette hielten, ins Vorzimmer. Sabine folgte mir und fragte, ob ich wirklich schon gehen wolle. Ich nickte und zog meinen Mantel an. „Aber es sind so viele Verrückte unterwegs“, sagte sie. Jetzt muss ich ständig daran denken. „Soll ich dir nicht ein Taxi rufen?“, fragte sie noch. Das würde ewig dauern, bis um die Uhrzeit zu Silvester ein Taxi daherkäme, dachte ich. „Überhaupt. Dieses Jahr!“, fügte Sabine hinzu und ich wusste erst nicht, was sie denn damit meinte. Aber ich wollte mich auf kein Gespräch mehr einlassen. Ich wollte nur noch aus dieser viel zu verrauchten, viel zu lauten Wohnung raus. Sabine umarmte mich zum Abschied. Ihr Schweiß roch so scharf, dass mir übel wurde. Sobald die Tür hinter mir ins Schloss fiel, rannte ich die Treppe runter, raus auf die Straße und atmete tief durch.
Ich fand die Nacht nicht schlimmer als die Jahre zuvor, eigentlich konnte ich gar keinen Unterschied festmachen. Ich lief die Weststraße hinunter, um mich herum waren Menschen, hauptsächlich Gruppen betrunkener Männer, in deren Reihen ab und an eine Frau mittorkelte. Sie gaben mir irgendwie Sicherheit. Trotz des Gepfeifes. Aber das Gepfeife, das gibt es immer, wenn ich so, also in einem kurzen Rock, den Stiefeln und einem taillierten Mantel, herumlaufe. Das wäre untertags auch nicht anders gewesen und ich ignorierte es einfach. Es waren ja nur knapp zwanzig Minuten bis nach Hause. Ich lief also, Blick nach unten, geradeaus auf die große Kreuzung zu, wo die Weststraße in die Oststraße mündet, wo die zwei Straßenbahnlinien sich kreuzen. Eine Straßenbahn fuhr gerade in die Station ein, ein paar Menschen stiegen aus und da erinnerte ich mich unerwartet an meine erste Straßenbahnfahrt im Westen. Diese Erinnerung war plötzlich wieder so real, dass ich für einen Moment an dieser Kreuzung stand und mich nicht bewegen konnte. Wie damals. Da muss ich etwa sechs Jahre alt gewesen sein, weil wir eben erst nach Deutschland gezogen waren. Kurz nach der Wende. Ich war auf dem Weg zur Schule gewesen. Ein Mann setzte sich neben mich. Es war das erste Mal, dass ich jemanden sah, dessen Haut so dunkel war. Jahre später dachte ich, dass er wahrscheinlich aus der Türkei oder noch weiter aus dem Osten gewesen sein muss. Er legte seine Hand auf mein Knie. Sonst machte er nichts, bis er ausstieg. Wie gelähmt war ich damals und auch nachher habe ich es niemandem erzählt. Wozu auch. Aber vergessen habe ich es auch nicht. An diesem Abend, auf dem Heimweg, musste ich wieder daran denken.
Ich bin dann in den ersten Späti rein. Ich schaute weder nach links noch rechts. Wollte einfach nur runter von der Straße. Hinter mir drängte jemand, schubste mich leicht, aber es kam sofort ein „Verzeihung“. Also drehte ich mich nicht um. Ich weiß nicht mehr, was ich aus einem Regal zog, womit ich dann zur Kassentheke ging. Es war mir auch nicht wichtig. Ein Mann unterhielt sich mit dem Ladenbesitzer, auf Türkisch, glaube ich. Sehr hektisch und laut. Wahrscheinlich war es derselbe Mann, der mich beim Reinkommen geschubst hatte. Der Ladenbesitzer schüttelte immer wieder den Kopf und sah mich entschuldigend an. Ich wollte dann nicht länger warten und legte die Packung Kekse – ich glaube, das war es – zurück ins Regal und ging. Ich hatte es ja nicht mehr weit und mein Unbehagen von eben war verschwunden. Im Laden hatte ich auf mein Smartphone geguckt, weil ich auf eine Nachricht von Frank gehofft hatte. Ich nun allein auf dem Bürgersteig. Kurz bevor ich in meine Straße abbog, hörte ich Schritte hinter mir, die irgendwie sehr schnell näherkamen.
Ich dachte noch: Dreh dich um! Weil ich das in einem Selbstverteidigungskurs mal gelernt hatte. Aber das konnte ich nicht. Mich umdrehen. Stattdessen lief ich schneller und suchte gleichzeitig in meiner Tasche nach dem Smartphone. Total idiotisch, weil ich ja dadurch viel langsamer war und auch nicht mehr auf die Schritte hinter mir achtete. Jetzt frage ich mich auch, warum ich nicht nach dem Schlüssel gesucht habe. Es ist irgendwie genauso, wie mit der Treppe und dem Fahrstuhl, wenn es brennt. Schon in der Schule erklären sie dir: Wenn es brennt, nimm die Treppe. In jedem Fahrstuhl klebt die Aufschrift: Im Brandfall nicht benutzen. Aber sobald dann wirklich der Feueralarm losgeht, denkst du nur, wie du am schnellsten zum Ausgang kommst und dass du mit dem Fahrstuhl einfach schneller bist!
Als ich das Smartphone endlich in der Hand hatte, fühlte ich mich kurz sicher. Dann fiel mir der Schlüssel ein und mir fiel auf, dass ich keine Schritte mehr hörte. Ein Moment, wie aus einem Thriller: Das Herz rast, das Gehirn wie leergefegt. Als Zuschauerin denkst du: Scheiße. Zu spät.
Er stand direkt hinter mir, das spürte ich. Eine Geruchsmischung aus kaltem Schweiß und Rauch drang in meine Nase. Sofort war da wieder diese erste Straßenbahnfahrt, aber anstatt zu versteinern, wurde ich wütend. Ja! Mir wurde total heiß. Ich wollte mich umdrehen, und ihm meine Faust ins Gesicht quetschen. Das waren alles Bruchteile von Sekunden. Und dann hörte ich eine irgendwie vertraute Stimme. „Helfen Sie mir!“ In einem gebrochenem Deutsch. Der Mann, der sich hinter mir in den Späti gedrängt hatte. Ich hörte gar nicht auf den Inhalt seiner Worte. Da war nur diese Mischung aus Wut und Irritation über das Vertraute. Ich drehte mich um, hielt ihm mein Smartphone vors Gesicht und schrie: „Ich rufe die Polizei. Ich rufe die Polizei.“ Er wich einen Schritt zurück, als würde ich mit einer Pistole auf ihn zielen, die Hände so vor seiner Brust, dass ich die leeren Handflächen sah. „Sie verstehen nicht. Die sind hinter mir her!“ Er sagte es so leise, dass ich mich anstrengen musste, ihn zu verstehen. „Wer?“, fragte ich automatisch. „Was reden Sie da?“ Seine Augäpfel zeigten in die Richtung, aus der wir kamen und ich folgte seinem Blick. „Da ist niemand!“, stellte ich fest. „Und jetzt lassen Sie mich in Ruhe!“ Das Smartphone hielt ich ihm noch immer drohend entgegen. „Bitte, bitte!“ Wie ein winselnder Hund stand er vor mir. Nicht weich werden, Anna, dachte ich. Das ist ein Trick! Ich kramte also mit der freien Hand nach meinem Schlüssel. Plötzlich hörte ich wirklich eine grölende Männergruppe. Kurz zögerte ich. Nein. Eigentlich bin ich mir nicht sicher, dass ich zögerte. Nur, dass ich das Haustor aufsperrte und es schnell hinter mir zuzog. Aus dem Augenwinkel sah ich noch die Männergruppe um die Ecke biegen.
Ich lehnte mich gegen das Tor und wartete darauf, dass sich seine Schritte entfernten. Aber er blieb stehen. Ich meinte, seinen Atem durch den Spalt zwischen Haustor und Mauer zu spüren. Verrückt war das. Wo er doch wegrennen sollte. „Bitte! Lassen Sie mich rein!“ Da zuckte ich zurück und drehte mich um. Schnell in die Wohnung, dachte ich. Aber da war sie wieder, diese Lähmung. Für einen Moment, von dem ich nicht mehr sagen kann, wie lange er dauerte, konnte ich überhaupt nicht denken.
„Scheiß Kanake!“ Das fuhr durch meinen Körper, wie ein Blitzschlag. So hatten mich Ronny und Hans die ersten zwei Schuljahre beschimpft. In mir vibrierte es. Ich wollte das Tor aufreißen und schreien: „Fick dich, du Arschloch!“ Die Türklinke klebte an meiner Hand. Alle Bilder vermischten sich. Die Straßenbahnfahrt als Kind. Der Mann in dem Späti. Frank. Die Silvester-Party bei Sabine. „Helfen Sie mir!“, hallte es in meinem Kopf. Ich hörte Schläge und Keuchen. Stellte mir vor, wie ein Stiefel in den Magen des Mannes trat und hielt mir die Ohren zu. Unterlassene Hilfeleistung, dachte ich. Anna, das ist unterlassene Hilfeleistung. Trotzdem schaffte ich es nicht, das Tor aufzuziehen. Als ich die Hände runternahm, hörte ich Lachen. Ich hörte Lachen. Die Männer lachten. Wahrscheinlich schlugen sie einander auf die Schultern. Mir wurde schlecht. Speiübel war mir auf einmal. Schritte entfernten sich. Gerade als ich das Tor wirklich aufziehen wollte, wurde ein Schlüssel von außen ins Schloss geschoben. Ich drückte mich gegen die Wand und hielt den Atem an und dachte: Du bist verloren. Erst war der Mann dran und jetzt du. Sie haben gesehen, wie du hineingegangen bist. Sie denken, du gehörst zu ihm. Dass du seine Kanakenbraut bist.
Er ging an mir vorbei, ohne mich zu bemerken. Er machte auch das Licht nicht an. Weil er hier wohnte. Das begriff ich da. Aber nicht nur das. Ich erkannte seine Silhouette. Es war Frank. Mein Frank!
Es gibt diese kurzen Augenblicke, in denen sich auf einmal ganz viele Fragen beantworten. Auch solche, von denen man gar nicht wusste, dass man sie sich gestellt hatte. Das ist komisch, irgendwie.
Ich wartete bis er die Treppe rauf war und unsere Wohnungstür öffnete und schloss. Alle Aufregung war weg. Dann zog ich das Tor auf. Der Mann lag bewusstlos auf dem Bürgersteig. Aus seiner Nase rann Blut, aber ich sah, dass er atmete. Mir war furchtbar kalt und ich zitterte. Meinen Mantel zog ich aus und legte ihn über den Mann. Dann drehte ich ihn auf die Seite, so, wie ich es im Erste-Hilfe-Kurs gelernt hatte. Es war kein Gefühl in mir. Alles geschah automatisch. Keine Panik. Keine Angst. Er tat mir auch nicht leid, wie er so dalag. Gar nichts. Ich wusste nur, dass ich einen Krankenwagen rufen musste. Und die Polizei. Dass es kein Zurück mehr gab. Ich spürte auch, dass er leben würde. Da war ich mir ganz sicher.