So etwas wie Hoffnung
Über sie:
Wenn ich an sie denke, denke ich immer auch Good friends we have, good friends we lost, along the way und don’t shed no tears. Denke also an dieses Lied von Bob Marley und gleichzeitig an ihre Stimme, wie sie ein gigantisches transatlantisches Rauschen durchmisst, um zu mir zu schwimmen. Sie erzählt von einer frühen Nacht in der westfälischen Provinz, in einer mittelkleinen Stadt, deren konservativer Charakter vom dringlichen Lebensgefühl übermäßig vieler Studierender verfälscht wird. Der Stadt also, in der wir uns kennenlernten. Die Stimme sagt, während sie angestrengt durchs Wasser krault und meterhohe Wellen durchbricht: „Er wollte so schnell wie möglich wieder weg aus dem Box-Zelt. Wir waren als Pärchen unterwegs, und, ja, ich wusste, das würde nicht mehr häufig, vielleicht sogar nie wieder vorkommen. Also hing ich an seinem Arm, kehrte dem Zelt den Rücken, obwohl es mich fesselte, mir den Atem verschlug.“
Über mich:
Als ich mit dem Arzt telefonierte, saß ich in der unbequemen Kinostuhlreihe in meinem Zimmer, das Handy hielt ich ein wenig weg vom Ohr. „Ich weiß überhaupt nicht, was Sie eigentlich wollen. Seien Sie doch froh, dass… die Natur ihre Entscheidung bestätigt.“ Was wollte ich, warum war es wichtig, dass der Fleck auf dem Bildschirm noch wuchs, wenn er angeblich leblos war? Ich wusste es nicht, radelte in verschiedene Richtungen, zwar mit Ziel, aber ohne viel Hoffnung auf Ankunft. Einmal hielt ich bei einer Kirche, die wahrscheinlich älter aussah, als sie war. Ich hätte die Wände abklopfen und herausfinden können, ob sie hohl klingen wie reife Melonen, ließ es aber, mein Bedürfnis nach Echtheit wurde oft genug beleidigt. Nach der goldenen Zwiebel zu schließen war die Kirche russisch-orthodox. Ich hatte mir etwas zu essen mitgenommen und rastete wie Maria im Schatten eines Nussbaums.
Über sie:
Im Zentrum des Zelts standen Männer, meist angetrunken, um einen Boxring und warteten darauf, gegen einen Schausteller anzutreten, den es für viel Geld zu besiegen galt. Er trug nichts als kunstseidene Boxershorts und die gleichen gepolsterten Handschuhe, die an den Händen seiner Herausforderer wie Gewichte wirkten. Man sah keinen Schweiß auf seiner Haut, während den Männern, die außerhalb des Rings auf ihren Einsatz warteten, schon jetzt die Haare nass an den Stirnen klebten. Drumherum drängten sich ihre Freundinnen, Frauen der Art, sagte sie mir, mit der sie sich noch nie unterhalten hatte, es sich wohl auch nie trauen würde. Einige davon kamen ihr schön vor, im gedämpften Licht außerhalb des Kampffeldes, für den Jahrmarktbesuch herausgeputzt mit paillettenbesetzten Pullovern, die dunkel und eng ihre Schultern umfassten. Sie warteten auf die Kämpfe ihrer Männer, gespannt. So, als gäbe es etwas Spektakuläres zu erwarten.
Über mich:
„Was liegen Sie denn so krumm und schief? Machen Sie sich einmal gerade!“ Ich schämte mich, weil ich nichts gemerkt hatte, nicht mal fühlte, wie ich mich verändern musste, um meinen Körper in eine annehmbare Waagerechte zu bringen, aber es war auch nicht nötig, schon schoben mich Hände zurecht, dort unterhalb meines Bauches, irgendwo. Dann kam der Anästhesist, das NT, die gütige Gottesseite, nachdem man mich hinunter in die Grube gelegt hatte, in die Finsternis und in die Tiefe. Es gibt so etwas wie Erlösung, dachte ich, bei der man ankommt, wenn man von hundert an rückwärts zählt und dabei etwas in seinen Arm sickern lässt.
Über sie:
Sie taten ihr leid, die Frauen, weil ihre Enttäuschung unausweichlich war. Sie hätte sie ablenken mögen von der Demütigung, die sie, die angaben, noch schwächer als ihre Männer zu sein, doppelt empfinden müssten. Sie wollte die Besiegten am liebsten verbergen, wenn sie auf Händen und Knien aus dem Ring krabbelten, sich aufrappelten und entweder geradewegs nach Hause gingen, oder sich – jetzt erst recht – besonders lang bei den Bier- und Würstchenbuden aufhielten und sich vielleicht für eine Zeit lang einredeten, dass eine Fahrt mit dem Top Spin auch eine Heldentat sei.
Über mich:
Als ich aufwachte, hatte ich an, was ich auf Anweisung der Schwester vor der Operation unter mein Kopfkissen gelegt hatte. Meine Mutter stand neben dem Bett. Vielleicht hatte sie geweint, als ich noch bewusstlos war, vielleicht war mein Hals deswegen nass, aber wahrscheinlich hatte sie nur mit ihrem Handy gespielt und kleine bunte Seifenblasen zum Platzen gebracht. Was sie fühlte, wusste ich nicht, aber ihr Gesichtsausdruck ließ mich die Tapfere mimen, nein, tapfer sein, ich hätte auf der Stelle aufstehen und ihr sagen können: „Guck Mama, alles ist gut, ich brauche dich nicht, geh, fahr nach Hause, ich bin gar nicht krank.“
Über sie:
Sie schlenderten noch über den Jahrmarkt, aber nur kurz, dann gingen sie die Allee entlang zum Schloss, setzten sich auf die Stufen davor und rauchten einen Joint. Sie waren stolz darauf, dass sie daran gedacht hatten, eine Flasche Wasser mitzunehmen, waren routiniert und begriffen nicht, dass hierauf nur noch Langeweile folgen konnte, oder, bei ihm, ein Experimentieren auf höherem Niveau. Sie sagte: „Meine Wünsche waren rückwärtsgewandt, seine offener, er wollte andere Drogen, andere Frauen, vielleicht lag es gar nicht an mir, dass er mich verließ, sondern an der Logik seiner Suchbewegung, die von der meinen verschieden war.“
Über mich:
Gerne würde ich sie wiedersehen, Eisberge umschiffen, ihr etwas Selbstgemachtes mitbringen, zum Beispiel einen Schal oder eine Mütze. Oder Handschuhe, dick gepolsterte Fäustlinge. Das Kind (oder ein anderes) ist inzwischen vier Jahre alt und bellt wie ein Hündchen, es spielt auf dem Boden zu meinen Füßen, bellt mich an nach Leckerlis, Lieblingsleckerlis.
Über sie:
Allein war sie zum Box-Zelt zurückgekehrt, wurde weitergeschickt zu den Schausteller-Wohnwagen, die einen Ring um die Buden und Fahrgeschäfte bildeten. Die waren ihr noch gar nicht aufgefallen. Erst gab es Gelächter. Sie war die Erste mit einem solchen Anliegen, die erste Frau. Das machte ihr nichts aus, sie wusste, dass das eigentlich für sie sprach, schwerwiegender war der Mangel an Erfahrung. Aber sie durfte mitfahren und nebenbei mit dem Boxer trainieren, unentgeltlich, wenn sie sich nützlich machte. Sie lernte. „Es stimmt nicht, dass es auf Ergebnisse ankommt“, sagte sie mir.
Über mich:
No Cry. Wenn mein kleiner Junge Husten hat und ich ihn einreibe, windet er sich vergnügt unter meinen Fingern und stößt sich nur um Haaresbreite nicht am Badewannenrand. Meine Hand unter seinem Hemdchen verteilt die Salbe auf dem zappelnden Brustkorb und der Geruch nach Eukalyptusöl scheint zu bedeuten, dass ich alles unter Kontrolle habe, insbesondere Infektionen. Er kichert und sagt, „Die Creme kitzelt“; weiß es nicht besser zu beschreiben und ich belasse es dabei, genieße lieber den Moment, suche nicht nach einem Wort, das ich ihm für dieses Gefühl anbieten könnte.
Über sie:
Sie hat mir geschrieben: „Weil ich immer kräftiger werde, komme ich mir wie eine Beschützerin vor, für dich, liebe Jean, egal, wie weit du weg bist, und auch für die Frauen, die beim Verlassen des Box-Zelts ihre Männer stützen. Es läuft gut. Ich glaube, es liegt daran, dass ich eine Einstellung zu meinen Gegnern habe. Sie sind mir nicht egal. Es fiele mir leicht, sie auszuknocken, sehr leicht. Aber erst möchte ich in ihren Augen so etwas wie Mut aufflackern sehen, mir vorstellen, dass bei ihren Freundinnen so etwas wie Hoffnung aufflackert. Ich lasse mir Zeit, bringe sie sanft zu Fall, so, dass es aussieht, als wären sie bloß ausgerutscht, denke ich mir, sage Guter Kampf zu ihnen, es kommt nicht aufs Ergebnis an. Auch jetzt, wo die Show beginnt, mit Musik und Applaus und übertriebener Ankündigung, denke ich nur daran und an dich, heute, wo wir wieder da sind, wo meine Reise begann.“