Antipasti, Pasta und Komplott
Sie hatte so etwas schon etliche Male gemacht, es gab keinen Grund jetzt unruhig zu werden. Der Regen trommelte von außen auf die Scheibe und gab dem Bild etwas Verwischtes. Sie klappte die Sonnenblende auf und betrachtete sich ein letztes Mal im Spiegel. Die Frisur und ihr Make-Up saßen. Sie hatte sich für etwas Dezentes entschieden, immerhin war dies ein Geschäftsessen, ein ruhiger Abend zum Kennenlernen, kein Anlass, um sich übermäßig hübsch zu machen. Es gab keinen Grund aufgeregt zu sein. Ein letztes Mal versuchte sie ihre Atmung herunterzufahren, ihren Herzschlag zu beruhigen, dann öffnete sie die Tür.
Sie schob den kleinen Schirm, den sie immer im Auto liegen hatte, durch den Türspalt und öffnete ihn. Dann trat sie nach draußen. Ihr Blick wanderte zu ihrem Ziel, dem italienischen Restaurant an der Ecke. Sie arbeitete sich in Schlangenlinien durch die Pfützen, bis sie schließlich vor der hölzernen Tür stehen blieb. Durch das eingelassene Glasfenster sah man dämmrig das Licht von drinnen. Sie trat in den warmen Innenraum. Ein junger Kellner kam mit breitem Lächeln auf sie zugeeilt.
„Wie kann ich behilflich sein?“
Sie lächelte vorsichtig zurück. „Ich werde erwartet, danke.“ Er eilte davon, unfähig, auch nur einen Moment ruhig stehen zu bleiben. Sie hängte ihren Mantel an die Garderobe und machte sich auf die Suche nach ihrem Gesprächspartner. Als sie tiefer in den Raum ging, sah sie, wie ihr von einem kleinen Tisch jemand zuwinkte. Ein Mann, wahrscheinlich fünfzehn Jahre älter als sie selbst, schaute sie freundlich an. Er war groß und gut gebaut. Seine Haare waren anscheinend schon früh ergraut, was ihm aber nicht schlecht stand. Sie drängte sich durch das Wirrwarr an Stühlen und Tischen.
„Doktor Toltev?“, fragte sie und reichte ihm die Hand. Dieser Mann war also der Grund, weswegen sie den ganzen Tag nicht hatte zur Ruhe kommen können.
„Derselbe.“ antwortete er. „Frau Doktor Isa Hahne, ich muss sagen, ich freue mich sehr, Sie endlich kennenzulernen. Schön, dass es sich so früh einrichten ließ, dass wir uns treffen.“
„Ich freue mich auch. Die Institution scheint Ihnen ja ihren guten Ruf zu verdanken. Da sehe ich es als selbstverständlich an, sie kennenzulernen, bevor unser gemeinsamer Joballtag beginnt.“ Sie wusste, dieser Mann war etwas ganz Besonderes. Er war nicht nur ein Arzt, er war eine Koryphäe, ein Genie auf seinem Gebiet. Und obwohl sie im Grunde seine neue Arbeitgeberin war, hatte er sie mit seiner Arbeit bereits beeindruckt.
„Ach was, wir sind ein Team, in dem alle Großes leisten. Außerdem eilt Ihnen Ihr Ruf ebenso voraus. Aber setzen wir uns doch.“ Er rückte ihr den Stuhl zurecht. Ein Gentleman. „Ich habe mir schon ein Glas Rotwein genehmigt.“
„Ich schließe mich Ihnen gerne an.“
Toltev winkte einen Kellner heran, bevor er sich ihr schließlich gegenüber setzte.
„Wann sind Sie angekommen?“, fragte er und lächelte wieder.
„Vorgestern. Die meisten Sachen liegen noch in den Kisten. Bisher bin ich nur dazu gekommen, das Notwendigste auszupacken.“
Die Sache mit dem neuen Job war recht überraschend gekommen. Eines Tages hatte sie einen Anruf bekommen, ob sie willig sei die Leitung der Paul-Ehrlich-Klinik zu übernehmen. Ohne groß darüber nachzudenken, hatte sie zugesagt. Die Paul-Ehrlich-Klinik war seit Jahren für ihre medizinischen Fortschritte und innovativen Medikamente und Methoden bekannt. Ein großer Teil des Ruhmes ging auf Doktor Toltev zurück. Es war als würde ein Traum wahr. Im Nachhinein betrachtet hätte sie vielleicht um ein bisschen mehr Eingewöhnungszeit und Informationen bitten sollen.
„Ich rate zu den Nudelgerichten. Sie haben hier großartige Tagliatelle mit Meeresfrüchten.“,, meinte Toltev und legte seine Speisekarte schon zur Seite, als der Kellner ihnen die neue flasche Wein brachte.
„Wie lange sind Sie schon an der Paul-Ehrlich-Klinik?“, fragte sie ihn.
Er lachte. „Ich gehöre mittlerweile zur Basisausstattung. Dieses Jahr sind es volle 24 Jahre. Wenn ich mich nicht täusche, bin ich der Einzige, der nach so langer Zeit noch durchhält.“
„Durchhält?“
„Naja, es ist ein anstrengender Job. Burn-Out ist keine Seltenheit und die meisten wollen doch nach einigen Jahren einen Tapetenwechsel. Das kann ich nachvollziehen, aber für mich war immer klar, dass ich hier bleiben werde.“ Sie nickte. Bei ihrer begrenzten Berufserfahrung hatte sie bereits mehrfach mit plötzlich abspringendem Fachpersonal kämpfen müssen. „Aber genug vom Negativen. Wie ist Ihr erster Eindruck?“
„Ich glaube, ich kann mich daran gewöhnen.“ Sie nahm einen Schluck Rotwein. „Wobei dies für mich ein großer Schritt ist und ich hoffe, dass mir die Eingewöhnung leicht fallen wird.“
„Sie können sich jederzeit von mir beraten lassen.“
„Danke, Danke. Vieles davon muss ich alleine klären. Bürokratische Dinge.“ Schließlich wollte sie von sich aus beweisen, dass sie die Richtige für den Job war. Man musste sich den Respekt seiner Kollegen verdienen, nur so kann man in einer Führungsposition bestehen.
„Mein Angebot steht.“ Toltev winkte und der Kellner sprang sofort herbei. „Wir nehmen ein Mal die Tagiatelle mit Meeresfrüchten und…“
„Zwei Mal.“ unterbrach sie ihn.
„Sehr gut. Und bringen sie uns noch eine Mischung Antipasti.“, fügte er hinzu und meinte an sie gerichtet: „Die müssen Sie probieren.“ Der Kellner nickte und eilte davon. „Sie haben einen tollen Job an der Lazarus-Klinik geleistet. Verzeihen sie mir das Wortspiel, aber sie sollen der Hauptgrund gewesen sein, dass die Klinik es geschafft hat wieder finanziell aufzuerstehen.“
„Die vorherige Leitung war etwas rückschrittlich in ihrer Herangehensweise. Ich habe die Sache lediglich auf Vordermann gebracht.“
„Sie untertreiben.“,, schmunzelte Toltev. „Bevor Sie kamen, war die Klinik auf dem besten Weg sich zu ruinieren. Sie sollen Großes geleistet haben.“
„Dann hoffe ich, das bei Ihnen fortzuführen.“,, entgegnete sie freundlich.
„Oh, ich bin mir sicher, dass Sie ein wesentlicher Bestandteil unserer Zukunft werden. Aber – ohne Ihnen zu Nahe treten zu wollen, wie kommt es, dass man so zeitig auf Sie gekommen ist?“ Überrascht hob sie die Augenbrauen.
Er korrigierte sich schnell. „Wie gesagt, Ihr guter Ruf eilt ihnen voraus, aber ich war doch verwundert, dass so kurz nach dem unerwarteten Rücktritt von Frank, ich meine Herrn Bauz, seine Nachfolge feststand.“
Sie überlegte wie offen sie ihm gegenüber sein sollte, entschied sich dann aber bei den wahren Begebenheiten zu bleiben.
„Herr Bauz und ich waren schon länger im Gespräch. Wir waren geschäftlich aufeinander gestoßen und haben den Kontakt gehalten. Das Ganze ging von ihm aus.“
„Ja, das passt zu ihm.“ Toltevs Blick wanderte etwas gedankenverloren zu dem leeren Teller vor sich. „Ich bin sicher, dass er die richtige Wahl getroffen hat.“
„Danke.“
Isa wusste nicht, ob sie sich geschmeichelt fühlen oder ernsthaft anfangen sollte zu beobachten, in welche Richtung ihre Unterhaltung lief. Sie hatte das Gefühl, dass es etwas gab, das die Sache komplizierter machen würde. „ Was habe ich denn zu erwarten?“
Er runzelte die Stirn. „Die Klinik läuft, soweit ich weiß, sehr gut. Wir haben uns viele neue Geräte, einen größeren Forschungsetat und anderen Luxus leisten können…“
„Das war doch nicht nur der Verdienst von Herrn Bauz. Ihre Preisgelder waren sicher auch eine große Hilfe?“,, schmeichelte sie ihm.
„Sicherlich. Aber Herr Bauz musste bei Null anfangen. Die großen Erfolge kamen später. Er hat das Klima geschaffen, in dem wir uns als Forschende entwickeln konnten. Das hat sich bis heute gehalten. Ich denke, dass es kaum eine Klinik mit einem freundlicheren Arbeitsklima gibt. Das werden sie bald feststellen.“
„Davon bin ich überzeugt.“,, sagte Isa.
Als der Kellner die Antipasti-Platte präsentierte,, bemerkte Isa plötzlich, wie hungrig sie war.
„Greifen sie zu.“,, meinte Toltev und überließ ihr die Wahl zwischen gefüllten Pilzen, Carpaccio und Oliven. Langsam wurde Isa lockerer und die Spannung fiel von ihr ab. Im Gespräch verflüchtigten sich ihre anfänglichen Bedenken. Trotz seiner Erfolge schien auch Toltev viel durchgemacht zu haben. Sein anfängliches Scheitern hatte anscheinend viel damit zu tun gehabt, dass er selbst nicht das Gefühl gehabt hatte, genügend Anerkenung für seine Leistung zu erhalten und dass es damit zu Reibungspunkten gekommen war. Isa war froh, dass sie Toltev erst in diesem Abschnitt seines Lebens kennenlernte, wo er mit seinen Ansprüchen ins Reine gekommen und ein umgänglicherer Mann geworden war. Schließlich wurden ihnen die Hauptgerichte serviert.
„Denken Sie, Sie können auch dieses Jahr Ihre Erfolge fortsetzen? Ich meine, steigern können Sie sich ja kaum.“
„Man kann sich immer steigern!“, widersprach Toltev, „Mit Ihrer Hilfe werden wir das schon hinkriegen.“
„ Mein Anteil an Ihrem Erfolg ist, denke ich, doch recht gering.“;, erwiderte Isa.
„Würde man meinen.“,, murmelte Toltev. Isa merkte, wie sich das unangenehme Anfangsgefühl sich wieder meldete. Mit irgendeiner Sache hatte Toltev noch nicht herausgerückt.
„Ihnen ist bewusst, dass ich keine Forscherin bin? Ich habe mir über die Jahre ein grobes medizinisches Wissen angeeignet, aber mein primäres Können liegt in anderen Bereichen. Ich jongliere mit Zahlen und Fakten, nicht mit Viren und Genen.“
„Das verlangt auch niemand von Ihnen.“
„Was dann?“, bohrte sie weiter.
„Ich hoffe sehr, dass Sie uns die Sicherheit geben, die wir brauchen, um voranzukommen.“
Langsam neigte sich Isas Geduld dem Ende zu.
Toltev spielte ein Spiel mit ihr und es war Zeit, dass sie die Spielregeln kannte.
„Wobei brauchen Sie meine Hilfe? Was kann ich für Sie tun, was so schwer zu formulieren ist?“
„Nun“,, er schürzte die Lippen „Unsere Arbeit kommt immer wieder an gewisse Hürden, die wir ohne Ihre Hilfe nicht überwinden können…“
„Es geht um juristische Dinge?“, hakte sie nach.
„Wie so häufig, aber auch nicht ganz.“
„Ich soll etwas für Sie klären? Etwas, das ihrer Forschung im Wege steht?“
„Nicht direkt.“
„Was dann?“,, herrschte sie ihn an. „Brauchen Sie mehr Geld? Sie wissen genau, dass es da keine Probleme geben würde. Soll ich für Sie in irgendeiner Sache die Augen offen halten? Sie besser betreuen, unterstützen? Was?!“
Toltev wartete ab, bis sie sich wieder beruhigt hatte. Er nahm einen Schluck von seinem Rotwein.
„Ich will erstmal nur, dass Sie mir zuhören.“ Er fixierte sie mit einem Blick. „Ich versuche, Ihnen meine Lage darzustellen und möchte, dass Sie offen bleiben. Lassen Sie sich und mir Zeit und geben Sie mir dann, wenn Sie alles gut durchdacht haben, eine ehrliche Antwort.“
„Worauf?“,, meinte sie, der Verzweiflung nahe, mittlerweile ohne wirklich auf eine Antwort zu hoffen.
„Herr Bauz war ein toller Mann. Vom ersten Moment an wusste ich, dass wir perfekt zusammenarbeiten werden. Er tickte einfach ähnlich wie ich. Wir teilten dieselben politischen Meinungen, hatten ähnliche Interessen, aber vor allem teilten wir miteinander eine Vision von Fortschritt. Dinge, die vorher unmachbar schienen, wurden durch ihn möglich.“ Isa versuchte ihn zu unterbrechen, aber Toltev sprach unbeirrt weiter. „Bürokratische Hürden wurden aus dem Weg geräumt und es gab erstmals eine genaue Vorstellung davon, wie sich unsere Klinik weiterentwickeln sollte. Wussten sie beispielweise, dass er die Abteilung für experimentelle Medizin gegründet hat?“ Nein, das hatte sie nicht gewusst. Und langsam bekam sie Angst. „Jedenfalls sorgte Bauz dafür, dass wir zum ersten Mal neue Dinge ausprobieren konnten. Aber für manche Sachen war und ist die Welt nicht weit genug.“ Die Dinge begannen einen Sinn zu ergeben. „Bauz hatte mein tägliches Hadern mit den mir auferlegten Grenzen miterlebt. In dieser Zeit führten wir viele Gespräche und ich beschwerte mich oft darüber, dass sich die Welt nicht schnell genug dreht. Irgendwann nahm er mich zur Seite und schlug mir einen Deal vor. Ich würde volle Freiheit in meinen Forschungsmethoden und meinem Arbeitsrhythmus haben, ich dürfte alles ausprobieren, was ich bisher nicht gewagt hatte. Die einzige Bedingung war, dass ich mein Wissen und meine Pläne mit ihm teilen würde und er das letzte Wort behielt. Kein Wort zu jemand anderem.“ Isa ahnte, wie diese Sache enden würde und war sich nicht sicher, ob sie damit etwas zu tun haben wollte. „Bauz arbeitete mit mir Verträge aus, die nur Wenige zu Gesicht bekommen sollten. Und dann tat er das Klügste, was er während seiner gesamten Amtszeit als Geschäftsführer der Paul-Ehrlich-Klinik jemals machen sollte. Er wandte sich ab. Tat so, als wüsste er nicht, was sich abspielte. Baute für all die Menschen da draußen die perfekte Kulisse auf und ließ mich einfach machen. Das ist es, was ich mir von Ihnen wünsche.“
Fassungslos starrte Isa ihn an „Fuck“.
„Ich kann verstehen, wenn sie von dem Ganzen leicht überfordert sind.“
„Wie bitte?“, Toltev war wahnsinnig. Sie wollte gar nicht wissen, was er alles angestellt hatte.
„Wir haben getan, was getan werden musste.“,, erklärte er.
„Das ist – kriminell!“,, herrschte sie ihn an.
„Kriminell heißt nicht, dass es falsch ist!“
„Doch, das heißt es!“ Der Kellner wollte gerade herantreten, machte aber auf der Stelle kehrt.
„Und Sie versuchen auch noch, mich da mit reinzuziehen!“
„Sie haben die freie Wahl!“,, entgegnete Toltev, „Wenn Sie mich erklären ließen, würden sie verstehen.“ Die Leute an den Nebentischen warfen ihnen nervöse Blicke zu. Aber niemand wagte es etwas zu sagen.
„Sie haben an Menschen herumexperimentiert!“,, sagte Isa mit gesenkter Stimme.
„Wir haben Menschen geholfen!“,, konterte Toltev.
„Wem haben Sie bitte schön geholfen?“
„Die Menschen wussten worauf sie sich einlassen! Unsere Versuchsobjekte hatten schon vorher keine Chance zu überleben.“
„Hören Sie sich überhaupt? Versuchsobjekte? Das waren Menschen!“
„Menschen, die so gut wie tot waren. Menschen, die nichts lieber wollten, als endlich ihr Leben zu beenden! Menschen, denen wir die Möglichkeit gaben, noch einmal Großes zu schaffen!“ Toltevs Hände waren zu Fäusten geballt. „Sie haben keine Ahnung, wie glücklich wir manche gemacht haben. In ihrem Tod noch haben sie mit meiner Hilfe die Menschheit weitergebracht.“
„Es besteht immer eine Chance auf Heilung.“
„Versuchen Sie sich das nur einzureden, aber es kommt der Punkt, wo uns die Wissenschaft sagt, dass es vorbei ist. Und dann muss man weiterdenken und darf sich nicht in Wunschträumen verlieren.“
„Die Menschen wussten doch nicht, worauf sie sich einlassen!“
„Und ob sie das wussten.“, sagte Toltev. „Jeder einzelne von ihnen hat einen Vertrag unterschrieben. Jeder wusste, was unser Ziel war und wofür er sich zur Verfügung stellte. Wir sind keine Mörder!“
„Ach wirklich?“
„Wissen Sie was? Das hat hier keinerlei Relevanz. Mein Gewissen ist rein. Ich weiß, dass ich das Richtige getan habe, und nur das zählt. Ich bin bereit, meine Verantwortung zu tragen. Das war es uns wert.“
Auch wenn Isa nicht mit Toltev übereinstimmen konnte, er war kein Wahnsinniger, der das große Bild des Ganzen aus den Augen verlor.
„Die Wissenschaft ist dazu da, unsere Grenzen zu erweitern, auch wenn dafür andere Grenzen aus dem Weg geräumt werden müssen.“,, fuhr Toltev fort.
„Aber Sie können nicht einfach alle Regeln ignorieren!“,, meinte Isa verzweifelt.
„Nur die falschen.“, Toltev zwinkerte ihr zu.
„Als ob sie das festlegen könnten!“
„Kann ich auch nicht, dafür sind Sie da.“
„Es fühlt sich nicht richtig an!“
„Nur weil die meisten Menschen um uns herum diese Meinung unterstützen, heißt das nicht, dass sie richtig liegen! Denken Sie an die Nazis, die Hexenverfolgungen. Menschen sind im Endeffekt auch nur Schafe…“
„Und Sie sind schlauer als alle Anderen oder was?“,, unterbrach Isa ihn.
„Ich habe meine Augen ein wenig weiter aufgemacht, mein Gehirn ein bisschen mehr benutzt und ich will auch Sie überzeugen.“
„Versuchen Sie es.“,, meinte Isa.
„Im frühen Mittelalter war es sogar noch verpönt Obduktionen durchzuführen und schauen Sie, wie weit wir nun gekommen sind. Ich behaupte, wenn es etwas gibt, das alle Betroffenen als richtig ansehen, ist es egal, was uns Ethik und Gesellschaft verbieten wollen. Wir müssen das machen, woran wir glauben. Wenn wir der Menschheit etwas zurücklassen wollen, dann muss man aus dem alten Schema ausbrechen. Irgendjemand muss vorausgehen und diesmal sind es leider wir.“
Es stockte.
„Es ist nicht ohne Grund so, dass unsere Abteilung für experimentelle Medizin solche Fortschritte aufweist. Die Japaner zum Beispiel haben während dem zweiten Weltkrieg einen großen Zugewinn an wissenschaftlichen Erkenntnissen errungen, indem sie Versuche an lebenden Menschen durchgeführt haben. Natürlich waren viele davon grausam und ein katastrophaler Verstoß gegen die Menschenrechte, aber genau das machte sie so einzigartig. Nicht ohne Grund haben die Amerikaner bei der Kapitulation der Japaner verlangt, dass diese sämtliche medizinischen Erkenntnisse mit ihnen teilen. Das hat die Medizin merklich nach vorne gebracht und diese Experimente wären unter anderen Umständen nicht durchführbar gewesen. Niemand will das zugeben, aber es ist die Wahrheit.“
„Der Zweck heiligt die Mittel?“
„Leider ja. Würde ich ähnliche Sachen heutzutage unterstützen? Auf keinen Fall.“
In Isas Kopf flogen die Gedanken immer noch durcheinander. Sie brauchte etwas Greifbares, Fakten.
„Wie viele von den genannten Fällen hatten Sie letztes Jahr?“
„Vier. Unsere meiste Zeit wird für die Planung und die Analyse der Experimente benutzt.“
Sie trommelte mit ihren Fingern auf dem Tisch. Nicht einmal eine Handvoll, aber trotzdem vier Menschenleben. Eine kleine Familie.
„Wie viele hatten Sie gefragt? Wie vielen haben Sie das Angebot gemacht?“
„Elf Patienten wurde ein Angebot gemacht. Viele springen doch noch im letzten Moment ab, haben Bedenken. Aus religiösen Gründe, plötzlich aufkommenden Ängsten. Da vergessen sie das große Ganze.“
„Kann man ihnen einen Vorwurf machen?“
„Natürlich nicht.“, sagte Toltev. „Aber ich stelle mir gerne vor, dass ich selber bei der Entscheidung nicht zögern würde, dass es für mich eine klare Sache wäre. Wahrscheinlich gehe ich bei der Sache zu sehr von mir selbst aus.“
„Vielleicht.“, meinte Isa zögerlich. „Sie verlangen viel von den Patienten.“
„Im Endeffekt nicht weniger als ihr Leben oder zumindest einen Teil davon. Aber dafür biete ich Ihnen als ein Teil meiner Forschung unsterblich zu werden, Geschichte zu schreiben.“
Er trank den letzten Schluck Rotwein genüsslich aus. Isa hatte ihr Glas nicht angefasst. Die Lust auf Essen und guten Wein war ihr schon lange vergangen.
„Was ich von Ihnen verlange, ist viel weniger. Und auch Sie haben die Chance, Geschichte zu schreiben. Ja oder Nein. Beides würde ich akzeptieren. Das eine nur mit Schmerzen.“
Isa versuchte ihre Gedanken zu ordnen. Aber je länger sie nachdachte, umso unschlüssiger wurde sie. Schließlich schüttelte sie nur den Kopf.
„Sie verlangen, dass ich einfach so mitschwimme. Es muss doch einen besseren Weg geben, Ihre Ideen zu unterstützen. Vielleicht ist die Welt einfach noch nicht reif genug, für ihre Herangehensweise.“
„Das spielt keine Rolle. Sie wissen, dass es das Richtige wäre, das spüre ich. Warum also nicht das Richtige tun? Vielleicht ist es für Sie Zeit, ihre Komfortzone zu verlassen. In unserer Welt zählen nur Ergebnisse. Wenn die gut sind, wird niemand fragen, woher sie kamen. Stellen Sie sich vor, was wir alles zusammen erreichen könnten. Einzigartiges.“
Toltev konnte nicht erwarten, dass sie hier und jetzt eine Entscheidung traf. Es ging um mehr als nur die Klinik und ihren Job. Es ging um sie selbst. Um ihre Zukunft.
„Nehmen sie sich Zeit.“,, antwortete Toltev, als könnte er Gedanken lesen. „Ich werde Sie nicht davon abhalten das Restaurant zu verlassen, ohne mir eine Antwort gegeben zu haben. Aber spätestens nächste Woche muss ich wissen, wie meine Zukunft aussieht. Dafür muss ich wissen, wo Sie stehen. Ich habe alles gesagt, was ich sagen wollte. Ich werde Sie nicht weiter belästigen, bis sie mir eine Antwort liefern.“
Isa starrte auf ihren vollen Teller. Nachdem sie sich eine Weile schweigend gegenüber gesessen hatten, sagte Toltev schließlich: „Ich glaube, es ist Zeit für mich zu zahlen. Mir scheint, uns beiden ist nicht nach einer Nachspeise.“ Er lächelte wieder. Isa nickte. Schweigend sah sie zu, wie Toltev den Kellner heranwinkte und bezahlte. Er half ihr in ihre Jacke und sie verließen das Restaurant. Von den anderen Tischen wurden ihnen neugierige, anklagende Blicke zugeworfen, als hätte man gehört, worum es in ihrem Gespräch gegangen war.
Die frische Luft klärte Isas Kopf. Sie reichte Toltev die Hand: „Danke für das gute Essen.“ Ohne den Schirm aufzuspannen, eilte sie zu ihrem Auto. Das Regenwasser aus den Pfützen spritzte ihr kalt an die Beine. Sie wollte nur noch nach Hause. Sie wollte sich auf ihr Bett schmeißen und sich auf dem erst heute morgen aufgebauten Fernseher eine anspruchslose Komödie reinziehen.